Tanz in den Mai

 

Mir war nicht besonders wohl zu Mute, als ich mitten in der Nacht über die einsame Wiese lief. Der Mond war von düsteren Wolken verhangen und ich hoffte inständig, dass es nicht anfangen würde zu regnen. Zum hundertsten Mal dachte ich, dass ich den Auftrag hätte ablehnen sollen. Was hatte mich nur geritten, ihn anzunehmen? Wenn die alte Dame nicht eine so gute Freundin meines verstorbenen Vaters gewesen wäre, hätte ich niemals zugestimmt. Zu spät, jetzt konnte ich nicht mehr zurück.

 

 

Schon von weitem sah ich ihre zierliche Gestalt am vereinbarten Ort stehen. Sie hatte Kerzen aufgestellt und Lichterketten in die nahen Baumkronen gehängt, die ein warmes Licht spendeten. Das mulmige Gefühl in meinem Innern blieb dennoch bestehen. Ich war zwar nicht abergläubisch, aber warum mussten wir uns ausgerechnet in der Walpurgisnacht treffen?

Ich stellte den Koffer ab und begrüßte meine Kundin. Roswitha trug die traditionelle Kleidung, was mich keineswegs überraschte. Ihr lag unser Vorhaben am Herzen, der dunkelblaue Rock mit Petticoat und die weiße Rüschenbluse gaben ihm einen festlichen Rahmen. Wochenlang hatte sie mich immer wieder aufgesucht, um mich hierzu zu überreden und in einem Moment der Schwäche hatte ich schließlich ja gesagt. Als ich jetzt das Leuchten in ihren Augen sah, tat es mir fast leid, dass ich es ihr so schwer gemacht hatte.

Rosi zeigte mir einen Platz, an dem ich meine Anlage aufbauen konnte. Unter einem der Apfelbäume stand eine Bank, die sich tatsächlich gut als Standort eignete. Von dort aus hatte ich einen guten Blick auf die Rasenfläche, auf die sich Rosi nun stellte und wartete. Kopfschüttelnd schaltete ich die Musik und mein Mikrofon ein. Sie schien es wirklich durchziehen zu wollen. Also gut.

Die eingängige Melodie des Country Songs »I walk the Line«, den Rosi sich als erstes gewünscht hatte, vertrieb meine Zweifel. Ich gab ihr die gewohnten Square Dance Kommandos, sang den Refrain und sie tanzte flüssig mit. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie sich in ihrem Alter noch so locker bewegen kann, zumal sie die Figuren alleine ausführen musste. Normalerweise hatte man beim Square Dance sieben weitere Tänzer, an denen man sich orientieren konnte. Rosi meisterte dennoch selbst die schwierigeren Kombinationen, die ich ihr zumutete und ich machte es ihr wahrlich nicht leicht. Sie ließ sich jedoch dadurch nicht rausbringen, sondern bewegte sich mit einer Anmut, die mich auf eine besondere Art berührte. Ihr Gesicht strahlte, während ihr Petticoat im Rhythmus der Musik bei jeder Drehung weiter nach oben schwang.

Als zweites Lied hatte sie sich mit »Moonlight Shadow« eine gefühlvolle Ballade gewünscht, die ich ihr jetzt nur allzu gerne darbot. Sie hatte mir erzählt, dass mein Vater jedes Jahr am 30. April mit ihr hierher gekommen sei und diese zwei Lieder für sie gecallt habe. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mein alter Herr sich auf so etwas eingelassen hat, aber jetzt, da ich es selbst erlebte, glaubte ich ihr. Sicher hatte es ihm genau so viel Freude bereitet, Roswitha dabei zu beobachten, wie sie in den Mai tanzte, wie mir heute. Dass er letztes Jahr so plötzlich von uns gegangen war, hatte ein tiefes Loch in meine Seele gerissen und ich fühlte mich ihm in diesem Moment auf eine Weise nahe, wie seit seinem Tod nicht mehr.

Vielleicht hatten mich meine Gefühle und Gedanken zu sehr abgelenkt, vielleicht war der Nebel aber auch so plötzlich aufgetaucht, dass ich ihn ohnehin nicht früher wahrgenommen hätte, wer weiß. Ein Schauer durchzog mich, es war mit einem Mal deutlich kälter als zuvor. Der Nebel wurde aus dem Nichts so dicht, dass ich Mühe hatte, die andere Seite der Wiese zu auszumachen. Er waberte, formte sich ständig neu, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Fast meinte ich, Figuren zu erkennen, die sich über den Rasen bewegten. Es sah aus, als würden sie tanzen. Ja, richtig, sie tanzten, und zwar auf meine Kommandos. Ich hatte nicht bewusst wahrgenommen, dass ich mein Square Dance Programm automatisch weiter abgespult hatte, aber als ich jetzt sah, wie die schemenhaften Körper im Swing umeinander wirbelten und dann ineinander verschlungen auf ihre Plätze promenierten, wurde mir schwindlig.

Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen, den ich mit einem Circle Left überbrückte. Außer Rosis Petticoat sah ich jetzt noch drei weitere Röcke im Takt der Musik nach oben schwingen und traute meinen Augen kaum. Es war die schönste und zugleich schaurigste Szene, die ich je gesehen habe. Gerade als ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte, spürte ich einen leichten Druck auf meiner Schulter. Schon bevor ich mich umdrehte, wusste ich, dass ich die Gestalt meines Vaters sehen würde. Er lächelte mich an und nickte mir bestätigend zu.

Unter Tränen sang ich das Lied zu Ende, mir ist bis heute ein Rätsel, wie ich das geschafft habe. Das Strahlen in Roswithas Augen und ihr Lachen, als ich mit »Swing her Home« mein letztes Kommando gab, werde ich niemals vergessen. Es war schon lange nicht mehr ihr Körper, der dort tanzte, nicht der reale Petticoat, den sie schwingen ließ. Sie war zuhause angekommen und ich hatte ihr das letzte Geleit gegeben.

 

Seither calle ich jedes Jahr in der Walpurgisnacht zu diesen beiden Liedern auf der Wiese. Sie kommen immer, um miteinander zu tanzen. Nur mein Vater hat sich leider nie wieder blicken lassen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0