Das Café am Montmartre

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Die Erinnerung daran ist verschwommen, wie so viele. Ich war in dieses Café am Montmartre gegangen, "La Mère Catherine", das klang so herrlich familiär und gemütlich, ein guter Ort, um sich inspirieren zu lassen. Ich hatte schon viel zu lange nichts Vernünftiges mehr zu Papier gebracht, eine echte Krise, mir wollte einfach absolut nichts einfallen. Als Schriftsteller war ich allerdings davon abhängig, immer neue Ideen zu entwickeln, aber im Moment war ich weit davon entfernt, mich zu meiner Berufswahl zu beglückwünschen. Ich stand kurz vor der Entscheidung, alles aufzugeben und mir eine Arbeit als Büroschreiber zu suchen, aber einen letzten Versuch wollte ich noch wagen. Vielleicht würde mir die Nähe zu anderen Künstlern helfen, ihre Aura auch meinen Gedanken irgendwie Flügel verleihen können, wer weiß.

 

Und tatsächlich spürte ich bereits beim Eintreten den Puls des Lebens in diesem kleinen, etwas in die Jahre gekommenen Etablissement, das seinen ureigenen Charme versprühte. Schmale Tische und Stühle aus Holz verteilten sich in kleinen Grüppchen in dem schmalen, langgezogenen Raum, der von einem munteren Stimmengewirr belebt wurde. Ich suchte mir einen kleinen Tisch in einer Nische am Fenster, um das von außen einfallende Licht nutzen zu können. Wirklich wohl fühlte ich mich in diesem Trubel nicht, die Fröhlichkeit um mich herum verlieh meiner eigenen Situation einen zusäzlichen Beigeschmack von Melancholie. Man muss mir meine Verzweiflung angesehen haben, jedenfalls setzte sich Oscar Wilde zu mir. Mein Herz klopfte sofort schneller vor Aufregung. Wir hatten früher nie viel miteinander geredet, wenn wir uns auf Lesungen oder Empfängen begegnet waren, er spielte schließlich in einer ganz anderen Liga als ich. Seine Geschichten waren nicht von dieser Welt. "Ich spendiere dir einen Absinth mein Freund, du wirst sehen, danach schreibt es sich ganz wie von selbst."

 

Ich konnte diesem giftgrünen Gebräu nicht viel abgewinnen, aber ich wollte Wilde nicht vor den Kopf stoßen, also sah ich ihm zu, wie er feierlich Wasser über ein Zuckerstückchen in ein Glas mit Absinth träufeln ließ, und zum Schluss das milchigtrübe Getränk zu mir herüberschob. "Trink, das wird dich auf andere Gedanken bringen. Vertrau mir." Sein Lächeln erschien mir falsch, aber ich war zu froh, von ihm beachtet zu werden, als dass ich daran mehr als einen Gedanken verschwendet hätte. Ich nippte an dem bittersüßen Likör und war überrascht, dass er mir mundete. Es breitete sich sofort ein angenehm leichtes Gefühl in meinem Inneren aus, fast als würde ich anfangen zu schweben. "Na also, du kannst es bereits spüren." Wilde grinste mich zufrieden an und ließ mich dann alleine zurück, nachdem er mir einen Notizblock und einen Bleistift auf den Tisch gelegt hatte.

 

Ich fing fast augenblicklich an, mir Notizen zu machen. Das war unglaublich, woher kam diese Geschichte so plötzlich? Die Ideen sprudelten nur so aus mir heraus, halb formulierte ich aus, halb notierte ich nur stichwortartig, damit ich schneller voran kam. Meine Gedanken waren meiner Hand stets mindestens drei Schritte voraus und ich hatte Mühe, sie wieder einzufangen. Es war einfach phantastisch, der beste Tag, den ich als Schriftsteller je hatte.

 

Um mich herum wechselten die Leute, manche kamen, andere gingen, der Tag wandelte sich vom späten Vormittag zum frühen Abend und darüber hinaus. Zuletzt saß ich alleine im Café und dessen Besitzer, der schon alle anderen Stühle hochgestellt hatte, wollte nun auch den meinen endlich haben. Es war, als würde ich aus einer Trance erwachen. Vor mir sah ich das längst leer getrunkene Glas Absinth und ich spürte, dass mein Mund staubtrocken war. Ich hatte seit Stunden weder gegessen noch getrunken und doch hatte ich weder Hunger noch Durst verspürt. Ich verabschiedete mich nicht einmal mehr vom Gastwirt, so verwirrt fühlte ich mich. Langsam, wie durch zähen Nebel hindurch kam mein Bewusstsein wieder zu mir zurück, während meine Geschichte umgekehrt immer diffuser wurde. Ich hütete meine Notizen wie einen Schatz, während ich durch die dunklen Straßen nach Hause eilte.

 

Als ich dort eintraf, überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, kaum schaffte ich es, mich meiner Kleidung zu entledigen, als ich auch schon eingeschlafen war. Und dann sah ich sie. Sie war das zauberhafteste Wesen, das ich in meinem ganzen Leben je zu Gesicht bekommen hatte. Ihr Lächeln strahlte schöner als das helle Licht der Sonne an einem Frühlingsmorgen. Ihre Augen waren von funkelndem Smaragdgrün, so klar und hell, dass ich darin versinken wollte. Sie hatte schimmernd goldenes Haar das glänzte, als würden darauf tausend Tautropfen tanzen, und ihre Stimme klang heller als das schönste Glockenspiel. Mir war auf seltsame Art bewusst, dass ich träumte, aber ich wünschte, ich würde nie mehr erwachen. Hätte ich mich in diesem Moment zwischen ihr und dem echten Leben entscheiden können, ich hätte keinen einzigen Tag mehr in die Realität zurückkehren wollen. Sie fragte mich, wie ich zu meiner ersten Geschichte gekommen war, die ich in meinem Leben geschrieben hatte. Ich erzählte ihr davon, die Geschichte handelte von einem Jungen und einem Straßenhund, und ich hatte sie bereits als Kind aufgeschrieben, kaum dass ich alle Wörter gelernt hatte, die ich dafür brauchte. Ich weiß noch, dass es ein sehr bedeutender Moment in meinem Leben gewesen sein muss, denn schon damals habe ich beschlossen, dass ich Schriftsteller werden wollte. Aber ich könnte heute nicht mehr sagen, wie es eigentlich dazu gekommen war.

 

Ich brauchte ein paar Tage, um meine Notizen ins Reine zu schreiben. An manchen Stellen fiel es mir schwer, meine eigene Handschrift zu entziffern, so hektisch waren die Worte zu Papier geprasselt. Und ich wunderte mich immer wieder über die Brillianz der Geschichte, die überraschenden Wendungen, die sie enthielt und die Klarheit, mit der sie schließlich auf den Punkt kam. Woher hatte ich das nur? Es war auf jeden Fall die beste Geschichte, die ich je geschrieben hatte, mit Abstand sogar, und das an einem einzigen Tag. Damit würden mich die Kritiker endlich ernst nehmen, die es bisher nicht für notwendig erachtet hatten, meine Werke zu erwähnen. Und ich würde sie sicherlich gut verkaufen können.

 

Der Nachteil an einem Erfolgserlebnis ist, dass man danach in ein ganz besonders tiefes Loch fällt. Die kreative Anspannung ist vorbei, die Energie, die man noch kurz zuvor in allen Körperzellen gespürt hat, verpufft. Auf der Suche nach einer neuen Idee wanderte ich tagelang ziellos durch die Stadt, trieb mich in zwielichtigen Nachtclubs herum, ließ mich von den dort angestellten Damen verwöhnen, soweit es mir mein schmaler Geldbeutel gestattete, doch nichts von alledem half. So hübsch die Damen auch waren, sah ich doch immer nur die rätselhafte Gestalt aus meinem Traum vor mir, dagegen verblasste jedes irdische Antlitz. Schlaflosigkeit war zu dieser Zeit mein größtes Problem, wollte ich doch nichts mehr, als noch einmal von ihr zu träumen. Doch fiel ich einmal vor Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf, so blieb er immerzu traumlos. Eines Morgens, ich wandelte ziellos in den schmalen Gassen in der Nähe der Basilika Sacré Coeur umher, kam ich wieder am Café La Mère Catherine vorbei, in dem ich meine großartige Geschichte entworfen hatte. Ich hielt es für ein gutes Omen, also trat ich ein. Vielleicht hatte ich gehofft, der Ort könnte als Quelle für meine Inspiration dienen, doch es geschah nichts. Aber wie der Zufall es wollte, war Wilde ebenfalls anwesend und leistete mir erneut Gesellschaft. Er fragte, ob ich neulich erfolgreich gewesen sei, und ich erzählte ihm, dass ich die beste Geschichte meines Lebens zu Papier gebracht hatte, mir jetzt aber absolut nichts mehr gelingen wollte. Er schmunzelte und beugte sich weit zu mir herüber, als er mir zuflüsterte, dass er mir nun sein wohlgehütetstes Geheimnis verraten würde. Es sei der Absinth, und zwar genau der Absinth aus eben diesem Café hier, der den Gedanken Flügel verleiht. Er sagte, ich hätte großes Glück, dass ich genau dieses Café als Inspirationsquelle ausgesucht hatte. Aber vielleicht hätte auch das Café mich auserwählt, das wisse man nie so genau. Und dann ließ er mich allein, nicht ohne mir vorher noch einen Absinth zu bestellen. "Carpe diem, mein Freund. Carpe diem!"

 

Von nun an war ich Stammgast in dem kleinen Café und der Absinth mein Lebenselixier. Ich schrieb an jedem Abend fast ein komplettes Notizbuch voll, und es waren immer umwerfende Gerschichten, manchmal Kurzgeschichten, dann Teile eines Romans, der mit Sicherheit alle bisher dagewesenen in den Schatten stellen würde. Es war phantastisch. Als ich genügend Material zusammen hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Verlag. Es war mühsam, niemand mochte das Risiko auf sich nehmen, einen nahezu unbekannten Schriftsteller zu verlegen, zumal mein Manuskript noch nicht fertig war. Aber schließlich hatte ich Glück bei einem Verlag, dessen Chef regelmäßig ins Café La Mère Catherine kam, um dort zu Mittag zu essen. Er hatte mich schon häufig dort sitzen und schreiben sehen, und war daher neugierig auf meine Arbeit. Ich überließ ihm meine Entwürfe und am nächsten Tag nahm er mich unter Vertrag. Nicht nur meine fertigen Geschichten, er sicherte sich auch das exklusive Verlagsrecht an meinem unfertigen Roman.

 

Ich fühlte mich bereits jetzt wie ein berühmter Romancier. Aber das wundervollste in meinem neuen Leben waren die nächtlichen Besuche meiner Traumfee. Sie erschien mir jetzt regelmäßig, in letzter Zeit kam sie jede Nacht zu mir, und ich hatte das Gefühl, dass sie immer wundervoller wurde. Ich konnte es mittlerweile garnicht erwarten, mich Schlafen zu legen und sie zu sehen. Sie erschien mir wie ein engelhaftes Wesen, so rein und zart. Irgendwie spürte ich, dass sie die eigentliche Quelle meiner Inspiration war. Lediglich am frühen Morgen fühlte ich mich seit einigen Wochen seltsam leer und irgendwie kraftlos. Ich hatte mühe, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Das musste wohl am Absinth liegen, aber ohne dieses spezielle Getränk war ich einfach nicht in der Lage, zu schreiben. Und das musste ich, schließlich hatte ich jetzt einen Vertrag zu erfüllen.

 

Eines Tages traf ich einen seltsamen Mann im Café La Mère. Ihm fehlte ein großer Teil des linken Ohres, sauber abgetrennt, wie abgeschnitten. Er sah, dass ich schrieb wie ein Besessener, und er kam zu mir an den Tisch. Was er sagte war ziemlich wirr, ich habe nicht alles verstanden. Ich dürfe sie nicht mehr zu mir lassen, hat er gesagt, und dass der Absinth an allem Schuld sei, dieses Teufelszeug. Er habe sich sogar selbst das Ohr abgeschnitten, um das nicht zu vergessen, das sei die einzige Möglichkeit gewesen. Nur könne er jetzt nicht mehr malen, also sei alles zu spät. Aber vielleicht bestünde für mich noch Hoffnung, wenn ich ihr für immer entsagte. Ich dürfe ihn nicht vergessen, sein Name sei van Gogh. Dann verließ er gebückten Schrittes das Café. Er hatte mich verunsichert, also ließ ich meinen Absinth stehen und ging nach Hause. Ich schlief unruhig in dieser Nacht, mich plagten Alpträume, in denen meine Traumfee der Teufel in Person der grünen Fee war, die meine Erinnerungen stehlen will. Mich grauste es noch am nächsten Morgen.

 

In den nächsten Tagen blieb ich zu Hause, ich mied das Café und den Absinth, so sehr hatte van Gogh mir zugesetzt. Das Problem war allerdings, ich kam zuhause mit meinem Roman kein Stück weiter. Es war absolut frustrierend. Egal, was ich tat, wohin ich auch ging, mir wollte einfach nichts gelingen. Nachts schlief ich meist unruhig und erholte mich nicht wirklich vom Tag. Wenn ich mal wieder aus einem Alptraum hochschreckte, plagten mich Existenzängste und die Gedanken an das nächste Gespräch mit meinem Verleger. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Und dann sah ich sie endlich wieder, nur undeutlich zwar, als könne sie nicht komplett zu mir durchdringen, aber ich war mir sicher, dass sie es war. "Du musst mich wieder zu dir lassen, mein Lieber, nur ich kann dir helfen. Was hält dich ab?" Ich war so froh sie zu sehen, dass ich ihr von van Gogh erzählte und was er zu mir gesagt hatte. Sie lachte ihr glockenhelles Lachen und ich fühlte mich gleich viel wohler, wie von einer Last befrreit. Am nächsten Morgen überlegte ich, warum ich eigentlich so lange nicht mehr in dem kleinen Café am Montmarte gewesen war. Mir fiel partout kein Grund ein, es zu meiden, auch wenn ich ein seltsames Gefühl hatte, als ich dort saß und meinen Absinth bestellte. Es kam mir irgendwie falsch vor, aber ich konnte nicht sagen, warum. Ich schrieb meinen Roman fertig, und mein Verleger war begeistert. Er verkaufte sich wie von selbst, kaum dass er gedruckt war. Mein Name war in aller Munde, ich war der neue Stern am Autorenhimmel und konnte mein Glück kaum fassen. Man bedrängte mich, ich müsse auf jeden Fall weiterschreiben, eine Fortsetzung, etwas Neues, vollkommen egal. Also ging ich weiterhin in mein kleines Café, das mir mittlerweile zum zweiten Zuhause geworden war. Ich verbrachte dort jeden Tag, an meinem kleinen Tisch mit meinem Absinth, von dem ich mittlerweile vier bis fünf Gläser zu mir nahm, an manchen Tagen mehr. Ich kannte fast jedes der Gesichter, die hier ebenfalls mehr oder weniger täglich reinschauten, und eines ließ mich in letzter Zeit nicht mehr los. Wer war dieser seltsame Mann, der mich manchmal anschaute, als seien wir uns schon einmal begegnet, und warum fehlte ihm ein Teil vom linken Ohr? Er sagte, sein Name sei van Gogh, und er habe keine Ahnung, wie das mit seinem Ohr passiert war.

 

Mir kam das irgendwie seltsam vor und tief in meinem Inneren wusste ich, dass irgendetwas nicht stimmte, etwas Schreckliches ging hier vor. Es musste irgendwie mit der grünen Fee zusammenhängen, nur wie genau? Ich sollte es aufschreiben, damit ich es nicht vergesse. Aufschreiben? Was wollte ich aufschreiben? Mir flossen die Erinnerungen durch den Kopf wie Sand durch meine Finger rinnt, so schwer zu fassen. Ich sollte erstmal einen Absinth trinken, damit ich mich besser konzentrieren kann. Und was machte eigentlich dieser junge Schreiberling dort drüben, den ich hier noch nie gesehen hatte. Er war sicherlich auf der Suche nach Inspiration, aber er schien nicht erfolgreich damit. Nun, ich wüsste schon, was ihm helfen könnte. Ich würde ihm einen Gefallen tun und ihm einen Absinth spendieren.

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