Wolfsmond

 

Sein Herz klopfte wie wild, als er sie zum ersten Mal auf den Bilddateien entdeckte. Eine junge Wölfin, die nachts an der Wildkamera vorbeilief. Im Rahmen seiner Promotionsarbeit kartierte er einen Teil des Biosphärenschutzgebietes auf der Schwäbischen Alb. Um eine Idee über den Tierbestand zu bekommen, hatte er einige Wildkameras aufgestellt. Bisher war enttäuschend wenig zu sehen. Wenn die Kamera überhaupt ausgelöst wurde, dann meist durch Vögel. Er hatte schon darüber nachgedacht, das Gebiet zu wechseln, und jetzt das. Der erste Wolf, der in diesem Teil von Baden-Württemberg gesichtet wurde, und das von ihm. Das war der absolute Jackpot.

 

Er beschloss, seine Entdeckung noch für sich zu behalten, damit er die Wölfin in Ruhe beobachten konnte. Er hängte alle ihm zur Verfügung stehenden Kameras in der näheren Umgebung auf in der Hoffnung, sie würde wiederkommen. Einmal pro Woche kontrollierte er die Dateien. Häufigere Besuche könnten die Wölfin möglicherweise abschrecken, und sie könnte das Revier wechseln. Falls es sich überhaupt um ihr Revier handelte und sie nicht nur auf der Durchreise war. Eine einzelne Wölfin ohne Rudel, das wäre ungewöhnlich.

 

In den nächsten Wochen ließ sie sich nicht blicken und er fürchtete schon, dass es ein einmaliger Zufall gewesen sein könnte. Aber dann, vier Wochen nach der ersten Sichtung, löste sie gleich zwei der Kameras aus, die in kurzem Abstand zueinander angebracht waren. Ihm fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Er besorgte sich ein Tarnzelt und legte sich mehrere Nächte zwischen den beiden Kameras auf die Lauer, allerdings vergeblich. Neue Fotos bekam er erst wieder nach Wochen zu sehen. Die Wölfin schien eine seltsame Vorliebe für Vollmondnächte zu haben. Vielleicht lag ihr hauptsächliches Revier doch woanders, und sie machte hier nur gelegentliche Streifzüge? Er überlegte, ob er die Kameras umhängen sollte, im Umkreis von einigen Kilometern verteilt, hatte aber Angst, dass er sie dann möglicherweise gar nicht mehr erwischen würde. Und dann geschah etwas absolut merkwürdiges. Es war wieder eine Vollmondnacht, die Bilder gut zu erkennen, nur war diesmal kein Tier auf den Fotos zu sehen, sondern eine junge Frau. Etwa gegen vier Uhr morgens wurden zwei Kameras im Abstand von mehreren hundert Metern ausgelöst. Wer lief denn mitten in der Nacht im Wald herum? Und zudem splitterfasernackt? Was für einer merkwürdigen Sekte gehörte die denn an? Die Wölfin, falls sie denn überhaupt in der Nähe gewesen sein sollte, hatte sie sicherlich vertrieben. Sie war jedenfalls nicht auf den Fotos.

 

Einige Tage später ging er wieder in den Wald, um die Kameras jetzt endgültig umzuhängen. So hatte das Ganze keinen Zweck, er hatte weder weitere Wölfe fotografiert, noch andere interessante Tierarten. Es hielt sich sogar auffällig wenig Wild in diesem Bereich auf, entweder war er zu unvorsichtig gewesen oder die Tiere mieden die Gegend aus einem anderen Grund.

 

Er war lange unterwegs gewesen, um geeignete neue Standorte zu finden, sodass es schon recht spät war, als er wieder an seinem Auto ankam. Da er mittlerweile gnadenlosen Hunger verspürte, beschloss er, im nächsten Ort etwas zu essen. Zwei Dörfer weiter fand er eine urige Wirtschaft, die mit hausgemachten Flammkuchen warb. Lecker und bezahlbar, außerdem meist schnell fertig, was will man mehr. Hinter der Theke stand eine junge Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie war ausgesprochen hübsch, aber er kam einfach nicht drauf, woher er sie kannte...

 

Er bestellte, und als sie kurze Zeit später mit dem Flammkuchen kam, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie sah aus wie die Frau auf seinen Fotos. Ob sie es tatsächlich war? Sollte er sie darauf ansprechen? Aber wie peinlich wäre es, wenn er unrecht hätte? „Kann es sein, dass sie manchmal nachts ohne Kleidung durch den Wald laufen?“ Das klang wie die dümmste Anmache der Welt. Nein, er würde lieber die Klappe halten und zuhause nochmal die Fotos anschauen. Vermutlich handelte es sich ohnehin um eine Verwechslung. Also zahlte er und machte sich auf den Weg nach Hause. Und schimpfte sich insgeheim einen Feigling.

 

Als er zuhause ankam, musste er sich als erstes die Bilder der Frau im Wald nochmals anschauen. Er hatte recht gehabt, es war eindeutig die Kellnerin. Was um alles in der Welt hatte sie nur dort im Wald gemacht? Er ärgerte sich, dass er sie nicht einfach angesprochen hatte. Er beschloss, in ein paar Tagen nochmal in das Restaurant zu gehen, in der Hoffnung, dass sie dort öfter kellnerte. Zweimal ging er dort noch essen, allerdings war sie nicht da. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.

 

Beim nächsten Vollmond legte er sich nochmals im Wald auf die Lauer. Es war eine sternenklare Nacht, sodass er eine einigermaßen gute Sicht hatte. Seinen Standort hatte er sorgfältig ausgesucht, er befand sich in der Nähe eines Wildwechsels, der auf eine kleine Lichtung führte, die er gut im Blick hatte. Er hatte sich diesem Platz aus der Richtung genähert, in welche die Wölfin vermutlich verschwand. Und auch die Kellnerin... wieso musste er eigentlich ständig an sie denken? War es nur wegen der Fotos und der Tatsache, dass er noch nicht hinter ihre Geschichte gekommen war? Irgendwie ließ sie ihn nicht mehr los.

 

Er hatte Mühe, die ganze Nacht wach zu bleiben. Zu sehen gab es nicht viel und der Wald war still. Er hatte sich an einen dicken Baumstamm gelehnt und musste zwischendurch eingenickt sein, denn als er wieder richtig wach wurde, fing es bereits an zu dämmern. Mist, falls die Wölfin hier vorbeigekommen sein sollte, hatte er das bei seinem Glück verschlafen. Er überlegte gerade, ob es überhaupt noch Sinn machte, weiter auszuharren, als er von jenseits der Lichtung Geräusche hörte, die langsam näher kamen. Und dann sah er sie. Sie war einfach wunderschön, wie sie aus dem Dunkel des Waldes auf die deutlich hellere Lichtung trat. Das Mondlicht fing sich in ihren langen blonden Haaren und umspielte ihren weiblich gerundeten Körper. Sie war nackt, wie auf den Fotos, aber sie schien nicht zu frieren. Er zögerte kurz, stand dann aber aus seinem Versteck auf und ging langsam auf sie zu. Sie wirkte seltsam abwesend und bemerkte ihn erst, als er fast direkt vor ihr stand. „Wie bin ich hierher gekommen?“ Sie schaute sich verwirrt um. Er zog seine Jacke aus und reichte sie ihr. Dankbar wickelte sie sich darin ein. „Komm, ich bring dich nach Hause. Lass mich nur schnell meine Sachen holen.“

 

Während sie zu seinem Auto liefen, erzählte er ihr von seinem Projekt. Als er ihr sagte, dass sie vor etwa einem Monat schon einmal nackt durch den Wald gelaufen sei, erschrak sie. Erinnern konnte sie sich daran nicht, nur dass sie in einer Nacht zu viel getrunken hatte und nicht mehr wusste, wie sie ins Bett gekommen war. Sie bat ihn, niemandem davon zu erzählen, da es ihr unglaublich peinlich war, und er versprach ihr, dass von ihm niemand etwas erfahren würde. „Eines ist nur merkwürdig,“ beendete sie das Gespräch „gestern habe ich gar nichts getrunken. Vielleicht bin ich ja eine Schlafwandlerin und es hatte mit dem Alkohol nichts zu tun.“ Das konnte er zwar kaum glauben, aber er schwieg und fuhr sie nach Hause. Bevor er ausstieg nahm er all seinen Mut zusammen und fragte sie, ob sie mal einen Kaffee mit ihm trinken würde. „Das bin ich dir wohl schuldig.“ war ihre Antwort. „Wenn du nur aus diesem Grund mitkommst, lassen wir es lieber. Du schuldest mir gar nichts.“ Sie lachte. „Nein, so war das nicht gemeint, ich würde mich freuen, dich mal wieder zu treffen wenn ich etwas zivilisierter aussehe.“

 

Sie verabredeten sich für Sonntag Nachmittag und pünktlich um drei stand er vor ihrer Tür. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ganz vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen. Es gab allerdings nur ein Klingelschild, das auf Kathrin Vogelsang lautete. Ein netter Name, das passte zu ihr. Er war tierisch aufgeregt, als er auf die Klingel drückte. Seine letzte Beziehung war schon eine Weile her, und seither war er etwas aus der Übung, was Verabredungen betraf.

 

Sie öffnete die Tür mit einem strahlenden Lächeln und er war wieder einmal hin und weg. Seine Nervosität war wie verflogen. Sie fuhren nach Bad Urach, ein hübsches Städtchen am Fuße der Alb, und während der Fahrt unterhielten sie sich bereits über alle möglichen Themen, so als würden sie sich schon ewig kennen.

 

In den nächsten Wochen trafen sie sich regelmäßig. Er übernachtete meist bei ihr, da sie die größere Wohnung hatte. In den ersten Nächten war er nervös gewesen und hatte wenig geschlafen, da sie jederzeit wieder schlafwandeln könnte, aber das hatte sich mittlerweile gelegt. Erst als die nächste Vollmondnacht bevorstand nahm seine Nervosität wieder zu. Er versuchte sich einzureden, das sei Quatsch, aber auch Kathrin war eine gewisse Anspannung anzumerken. Mitten in der Nacht wurde er wach, weil er Geräusche hörte. Er fasste neben sich, aber die andere Seite des Bettes war leer. Schnell schwang er sich aus dem Bett, zog ein paar Klamotten über und stürmte nach draußen. Er schaute sich um, aber Kathrin war nirgends zu sehen, also machte er sich auf den Weg in Richtung Wald. Es dauerte eine Weile, bis er sie einholte, erst kurz vor dem Waldrand sah er sie, nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, wie sie in Richtung Wald ging. Er wollte sie gerade rufen, als sich das Unfassbare vor seinen Augen abspielte. Sie senkte sich auf Knie und Hände und streckte sich in die Länge. Das Nachthemd und ihre Unterwäsche riss sie von sich und warf beides achtlos zur Seite. Dann legte sie sich auf den Rücken und wälzte sich unkontrolliert von einer Seite auf die andere. Er traute seinen Augen kaum, als er sah, dass sich ihre Arme und Beine seltsam verformten, ihr Gesicht verzog sich zu einer furchtbaren Grimasse und dann zu einer Art Hundeschnauze. Ihr ganzer Körper überzog sich mit einem Flaum, oder besser gesagt mit Fell. Sie drehte sich auf den Bauch und richtete sich auf, ziemlich wackelig auf ihren... nun, am ehesten traf es das Wort Pfoten. Sie schüttelte sich, wobei blonde Haare nach allen Seiten fielen, legte den Kopf in den Nacken und... heulte! Ihm standen die Haare zu Berge als ihm klar wurde, was er da sah. Sie war ein Wolf! Nein, sie war nicht nur ein Wolf, sie war seine Wölfin, oder besser gesagt, seine Werwölfin. In diesem Moment drehte sie sich um und sah ihm direkt in die Augen. Kein Zweifel, das waren Kathrins Augen.

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